11. November 2021 / Allgemein

Leidfaden ent-wickelt

Kunst-Installation im Pappelwald erinnert an Corona-Tote

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Leidfaden ent-wickelt

Simone Thieringers Kunst-Installation im Pappelwald erinnert an Corona-Tote

Am Sonntag blieb der ein oder andere Spaziergänger verdutzt stehen, als er sah, wie eine zehnköpfige Gruppe um Simone Thieringer einen blauen Faden um fünf Bäume wickelte. Was am Ende ein wenig wie ein Spinnennetz anmutet, ist eine Kunstinstallation mit ernstem Hintergrund: Es geht um die Corona-Pandemie. 

Leidfaden

Auf den ersten Blick wirkt der himmelblaue Faden fröhlich, spielerisch und leicht. Doch begeht man die Installation, wird erlebbar, wie dieser Faden zwischen den Baumstämmen Sackgassen bildet, Einbahnwege weist und sich aufgliedert in hunderte Einzelfäden. Der Weg des Fadens kreuz und quer um die Bäume symbolisiert den Versuch des gesellschaftlichen Kollektivs, dieser Corona-Pandemie Herr zu werden. Die Teilstrecken und Richtungswechsel des Fadens stellen die unterschiedlichen Wege dar, dem Virus etwas Sinnvolles und Wirkungsvolles, einen Leitfaden entgegenzusetzen. Simone Thieringer bringt das erfahrene Leid der Corona-Pandemie in Deutschland auf eine zwischenzeitlich messbare Größe: 960 Meter, von denen jeder Zentimeter für einen der 96.000 in Deutschland verstorbenen Menschen steht. Aber ebenso wie das Ende des Fadens nicht greifbar und sichtbar ist, so verhält es sich mit dem Schmerz, der Trauer und den vielen Einzelschicksalen.

Leitfaden

Und dennoch wird der Leidfaden zum Leitfaden: Aus Entwicklungen und Brüchen im Leid entstehen neue Wege, neue Leitlinien, Leitfäden. Auch wenn der Weg zu diesem Leitfaden noch weit scheint, wählen Menschen im Spannungs- und Entscheidungsfeld zwischen Verlust und Neubeginn.

Wie alles begann? 

Als Corona begann, als es ernst wurde, auch für uns in Deutschland, hat Simone Thieringer angefangen täglich so viele Luftmaschen zu häkeln, wie es Tote gab. Das war im März 2020.
Anfangs war es schnell gemacht. 2 - 1 - 2 - 3 - 4 - 8 - 11 - 16 - 8. Immer bei der Tagesschau. Irgendwann dann 128, 173…und als es mehr wurden (852, 1129, 964) hat es etwas von Rosenkranzbeten bekommen. Fast wie eine Meditation.

Tatsächlich wurde es zu viel. Nicht die Tätigkeit an sich, sondern die Gedanken dabei. Eine Masche ist schnell gefertigt. Ein Faden und Luft. Sowieso, Luft: etwas was die Erkrankten gebraucht hätten. Inzwischen sind es mehr 96.000 Tote und wären ebenso viele Maschen. Nur für Deutschland. Weltweit sind es heute 5 Millionen. Unvorstellbar.
Ein Leidfaden ist entstanden. Mit d! Er steht für das Leid, für die Schmerzen und die Trauer, die Veränderungen im Leben. Er steht für das Leid, was diejenigen noch lange mit sich tragen werden, die psychischen Probleme, die Gewalt die plötzlich sichtbar wurde, die Insolvenzen, die Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit. Die Trennungen.
Und schließlich wird klar, dass der Leidfaden eigentlich einmal um die Welt gespannt werden und die 5 Millionen Verstorbenen abbilden müsste. Weltumspannendes, gemeinsames Leid, wie selten zuvor.

Der gehäkelte Faden ist inzwischen abgelöst von einem himmelblauen Faden, der wiederum aus vielen Einzelfäden besteht. Denn, abgeleitet von dem Gedanken an Corona wurde auch deutlich, dass es viele andere Leidfäden gibt, jeder Mensch hat einen persönlichen Leidfaden. Schaut man auch die Welt, erreichen uns heute Katastrophen nie gekannten Maßes. Überflutungen, Brände, Vulkanausbrüche, es scheint, als würde sich die Erde wehren.

Der Leidfaden soll immer dort auftauchen, wo er an das Leid erinnern und die Menschen aufmerksam machen kann. Die Installation am Pappelwald wird noch bis zum 8. Dezember zu sehen sein. 

www.simone-thieringer.de

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