16. Januar 2022 / Aus aller Welt

Wo steht Deutschland in der Pandemie?

Die Omikron-Variante sorgt für explodierende Corona-Zahlen - könnte aus Sicht von Experten aber auch den Weg aus der Dauerkrise weisen. Doch noch dürfe sich Deutschland andere Länder nicht zum Vorbild nehmen.

In einem Testzentrum wird von einer Mitarbeiterin ein Abstrich für einen Corona-Schnelltest genommen.

Es ist schwer zu durchblicken: Erstmals übersteigt die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz die 500er-Marke, hat mancherorts sogar Werte über 1500 erreicht.

Zugleich spricht das Robert Koch-Institut (RKI) von einer «neuen Phase der Pandemie», in der reine Fallzahlen in den Hintergrund rückten. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder deutet die Abkehr vom «Team Vorsicht» an. Und in vielen europäischen Ländern werden Corona-Maßnahmen gelockert. Wo steht Deutschland?

In welcher Phase der Pandemie steht Deutschland gerade?

Die sehr ansteckende Sars-CoV-2-Variante Omikron sorgt für einen Anstieg der Corona-Neuinfektionen, geht allerdings tendenziell mit milderen Verläufen einher als ihr Vorgänger Delta. «Wegen der hohen Inzidenzen durchlaufen wir zurzeit eine kritische Phase», sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen. Wegen der extremen Dynamik könne es in den kommenden Wochen nochmals an vielen kritischen Stellen Engpässe geben - sowohl in Krankenhäusern als auch bei der sonstigen Versorgung. Davor warnt auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

«Aber es gibt Licht am Ende des Tunnels», betont Zeeb. «Der derzeitige Anstieg wird in eine andere Phase der Pandemie münden.» Davon geht auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg aus. «In Großbritannien bricht die Omikron-Welle gerade in sich zusammen. Das kann man mit etwas Verzögerung auch hierzulande erwarten. Es gibt bisher keine Daten, die gegen dieses Szenario in Deutschland sprechen würden.»

Wann wird dieser Scheitelpunkt voraussichtlich erreicht sein?

Die Experten rechnen mit hohen Inzidenzen noch für Januar und Februar. «Basierend auf den Daten aus anderen Ländern und unseren Maßnahmen in Deutschland könnte diese Welle in ein oder zwei Monaten überstanden sein», sagt Schmidt-Chanasit. «Hinzu kommt dann ab dem Frühjahr die starke Saisonalität des Virus. Die hat einen sehr starken Einfluss auf das Infektionsgeschehen - unabhängig von der Virusvariante.»

Wie hoch ist bis zum Abflauen das Risiko für eine Überlastung der Krankenhäuser?

Zeeb verweist auf das Bundesland Bremen, das mit mehr als 1400 die mit Abstand höchste Sieben-Tage-Inzidenz der Bundesländer aufweist. «In Bremen ist die Belegung der Intensivstationen stabil, obwohl die Inzidenz schon seit mehr als einer Woche steigt», sagt er. Allerdings seien die Normalstationen sehr stark mit Covid-19-Patienten belegt.

«Bisher sehen wir keine Überlastung der Intensivstationen», sagt auch Schmidt-Chanasit. Die Lage in Bremen mit seiner hohen Impfquote zeige, wie wichtig Impfungen zum Verhindern schwerer Krankheitsverläufe seien. Allerdings müsse man die nächsten ein bis zwei Wochen abwarten und dabei die vulnerablen Bevölkerungsgruppen besonders im Blick behalten - also ältere Personen und Menschen mit Immunschwäche.

Wegen der hohen Zahlen plädiert Schmidt-Chanasit dafür, bei den Testungen zu priorisieren. «Wir sollten die begrenzten Ressourcen dort einsetzen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.» Dazu zählten etwa ältere Menschen und Einrichtungen wie Pflegeheime und Krankenhäuser, nicht aber PCR-Tests für junge asymptomatische Menschen.

Länder wie Spanien erwägen einen Wechsel der Corona-Strategie. Wäre das auch für Deutschland sinnvoll?

Nach Angaben des spanischen Ministerpräsident Pedro Sánchez arbeiten Experten daran, Covid-19 ähnlich wie eine Grippe zu behandeln. Statt jeden zu testen, könnten Stichproben erfasst und als Grundlage für ein Frühwarnsystem hochgerechnet werden. Als Grund für den Kurswechsel nannte Sánchez auch die erfolgreiche Impfkampagne.

Deshalb ist das Modell Experten zufolge auch nicht so einfach auf Deutschland übertragbar. «Entscheidend ist die Grundimmunität der Bevölkerung - entweder durch die Impfung oder eine überstandene Infektion», sagt Zeeb. Spanien habe das mit seiner hohen Impfquote von etwa 90 Prozent geschafft, Deutschland lag am Wochenende laut RKI bei rund 73 Prozent mit vollständiger Grundimmunisierung. «Wir müssen die Immunität durch die Impfungen weiter aufbauen, und das kann noch dauern», sagt Zeeb. Das von der Bundesregierung angestrebte Ziel von 80 Prozent Erstimpfungen bis Ende des Monats sei schwer zu erreichen.

Wann könnte in Deutschland ein Strategiewechsel möglich sein?

Zeeb rechnet damit, dass es je nach Immunisierungsgrad der Bevölkerung Mitte des Jahres so weit sein könnte. Das Coronavirus werde sich in der Bevölkerung ausbreiten. «Wir werden uns über kurz oder lang alle mit Sars-CoV-2 infizieren», sagt er. Auch der Virologe Christian Drosten sieht in Omikron eine «Chance», aus dem Krisenmodus rauszukommen - breite Immunität vorausgesetzt. Alle Menschen müssten sich früher oder später infizieren. «Ja, wir müssen in dieses Fahrwasser rein, es gibt keine Alternative», sagte er dem «Tagesspiegel am Sonntag». «Das Virus muss sich verbreiten, aber eben auf Basis eines in der breiten Bevölkerung verankerten Impfschutzes» - sonst würden «zu viele Menschen sterben».

Je mehr Menschen durch Impfungen oder Infektionen immunisiert seien, desto unwahrscheinlicher werde eine Überlastung des Gesundheitswesens, sagt Schmidt-Chanasit. Dann sei die Sonderrolle von Sars-CoV-2 im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten nicht mehr gerechtfertigt. Dafür müsse man die Datenlage genau analysieren. «Aber der Zeitpunkt für die Diskussion wird im Frühjahr sein - nach dem Ende der Omikron-Welle», sagt der Virologe.

Auch in der Politik gibt es vorsichtige Anzeichen für einen möglichen Strategiewechsel. Bayerns Ministerpräsident Söder, bisher «Team Vorsicht», sagte dem «Münchner Merkur»: «Es wird nicht mehr ausreichen, die Lage nur medizinisch und virologisch zu betrachten. Wir müssen auch auf die gesellschaftliche und soziale Komponente stärker achten.» Bisher schilderten Experten eine geringere Anzahl Patienten in den Krankenhäusern und mildere Verläufe. «Omikron ist nicht Delta. Das heißt: Wir müssen genau justieren, welche Regeln zwingend nötig, aber auch verhältnismäßig sind.»

Könnte sich die Situation wieder zuspitzen durch eine neue Corona-Variante, die ähnlich ansteckend ist wie Omikron, aber deutlich aggressiver?

«Dieses Szenario kann man zwar nicht ausschließen, es ist aber extrem unwahrscheinlich», sagt Schmidt-Chanasit. Die Omikron-Variante befalle im Vergleich zur Delta-Variante stärker die oberen Atemwege und weniger die tiefen Bereiche der Lunge. Daher verursacht sie weniger schwerwiegende Verläufe.

Zwar komme es mit zunehmender Grundimmunität der Bevölkerung seltener zu schweren Verläufen, aber: «Sars-CoV-2 wird in den nächsten Jahren für die Älteren oder Menschen mit Immunschwäche noch eine Herausforderung bleiben.» Insofern geht der Virologe davon aus, dass neben der Impfung in diesen Bereichen auch Masken und Tests in den nächsten Jahren noch eine wichtige Rolle spielen werden.

Epidemiologe Zeeb hält eine noch infektiösere Variante als Omikron in der nahen Zukunft für unwahrscheinlich. Seine Hoffnung: «Im Moment durchlaufen wir die Omikron-Welle und bauen damit - am besten auf Basis geboosterter Impfungen - Immunität auf. Das ist auch für spätere Varianten wichtig.»


Bildnachweis: © Sina Schuldt/dpa
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