17. Februar 2022 / Allgemein

Viele Familien leben unter dem Existenzminimum

Steigende Kosten für Strom und Wohnung führen zur Aufnahme neuer Darlehen

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Viele Familien leben unter dem Existenzminimum

Caritas: Steigende Kosten für Strom und Wohnung führen zur Aufnahme neuer Darlehen

Der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II ist vom Bundesverfassungsgericht als Existenzminimum definiert. Doch kaum jemand bekommt ihn in voller Höhe ausgezahlt. Zuzahlungen zu Strom- und Wohnkosten führen zur Aufnahme von Darlehen beim Jobcenter. Die Rückzahlungen werden vom Regelsatz abgezogen, ein Leben unter dem Existenzminimum ist die Folge.

Die tatsächlichen Kosten für Elektrizität sind der Wirklichkeit längst enteilt und für die vom Jobcenter akzeptierten Mieten finden sich keine Wohnungen mehr. "Seit Jahren kritisieren wir die Berechnungsgrundlagen als realitätsfern", stellt der Direktor des Diözesancaritasverbandes Münster, Heinz-Josef Kessmann, fest. Die Inflation vergrößert die Lücke aktuell weiter. Zum Jahresbeginn ist der Regelsatz um drei Euro oder 0,67 Prozent auf 449 Euro angehoben worden, bei einem Preisanstieg von knapp fünf Prozent in 2021. "Damit dreht sich die Armutsspirale weiter", erklärt Kessmann.

Auch im Kreis Warendorf stehen viele Familien vor der aussichtslosen Aufgabe Darlehen aus dem Hartz IV Regelsatz zurückerstatten zu müssen. Die Anzahl der Menschen, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können und Hilfe suchen, nimmt zu. Doch wo soll das Geld eingespart werden, wenn ohnehin schon zu wenig zum Leben da ist? „Viele sparen beim Essen und gehen zum Warenkorb oder zur Tafel. Was nützen den Betroffenen drei Euro, wenn sie 500 Euro nachzahlen müssen“, so Perica Boro von der Allgemeinen Sozialberatung des Caritasverbandes im Kreisdekanat Warendorf.

Während die Wohnungsgrößen entsprechend der Zahl der Haushaltsmitglieder allgemein festliegen, passen sich die akzeptierten Miethöhen den örtlichen Mietspiegeln an. In Warendorf darf eine bis zu 50 Quadratmeter große Single-Wohnung maximal 409 Euro kosten, in Münster sind es 532 Euro, in Rheine beispielweise 388 Euro. Praktisch lassen sich zu diesen Kosten, nach Rückmeldungen mehrerer Beratungsstellen, aber keine Wohnungen mehr finden, vor allem große Wohnungen seien absolute Mangelware. In der Not akzeptiert das Jobcenter auch teurere Wohnungen, der Mehrbetrag muss jedoch aus dem Regelsatz bestritten werden.

Der Regelsatz schwindet weiter. Fast alle Arbeitslosengeld II oder Empfänger von Grundsicherung tragen Darlehen beim Jobcenter oder Sozialamt ab. Sehr häufig werden Mietkautionen zurückgezahlt oder Anschaffungskosten für Haushaltsgeräte, die unvorhergesehen ersetzt werden mussten. Die Rückzahlungen sollen maximal zehn Prozent des Regelsatzes betragen. Um das einhalten zu können, werde dann einfach ein Kredit an den anderen gehängt und die Laufzeit verlängert, erklärt Andreas Dawo, Schuldnerberater der Caritas Ahaus-Vreden. Im Fall eines Ehepaares führte das zu 10.000 Euro an Schulden, die sich in einem halben Dutzend Darlehen aufgehäuft haben.

Damit nicht genug, sind Hartz-IV-Bezieher von Rückforderungen des Jobcenters betroffen. "Vielfach werden Leistungen erst einmal vorläufig bewilligt", erklärt Michael Mehlich von der Grundsicherungs- und Sozialberatung der Caritas Münster. Das geschieht vor allem dann, wenn der Bezieher zwischendurch einen Job hat und etwas eigenes Geld verdient. Was am Ende zum Leben bleibt, wird damit völlig unkalkulierbar. Eigentlich müsse der ALG-II-Empfänger ständig die Lebensdauer seiner Haushaltsgeräte im Blick haben und dafür etwas Geld zurücklegen.
Schwierig kann in Münster auch vermeintliche Hilfe werden. Bei den Stadtwerken bemühe sich eine Sozialarbeiterin darum, die Stromschulden der Kunden in den Griff zu bekommen. Im Ergebnis bedeute das jedoch, dass Ratenzahlungen zusätzlich zu den Darlehen des Jobcenters vereinbart würden, so Mehlich. Die Höhe orientiere sich dabei an der Zeit bis zur nächsten Jahresrechnung: "In zwölf Monaten soll die Schuld abgetragen sein."

Im Ergebnis sind die von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe lebenden Haushalte auf Warenkörbe, Tafeln und Kleiderkammern angewiesen. Kinder bekommen als Frühstück - wenn überhaupt - nur noch Toast mit Marmelade in die Kita mit. Nudeln mit Tomatensoße steht in den letzten Tagen des Monats auf dem Speiseplan. "Da geht es ums Überleben und nicht um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, das die Regelsätze eigentlich auch noch ermöglichen sollen", stellt Helmut Flötotto, Referatsleiter Soziale Arbeit im Diözesancaritasverband Münster, fest.

Der Grund dafür, dass die Hartz-IV-Haushalte immer tiefer in der Armutsspirale absinken, ist schon in der ursprünglichen Berechnungssystematik angelegt. Die Regelsätze und deren Erhöhung werden vom Einkommen der unteren 15 Prozent der Einpersonen- und 20 Prozent der unteren Mehrpersonenhaushalte abgeleitet. Davon werden noch Bedarfe abgezogen, die als politisch nicht relevant erachtet werden, erklärt Flötotto: "Wir brauchen eine neue Berechnungsgrundlage, um zu Sätzen zu kommen, die tatsächlich ein würdevolles Leben und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen." Bei der Diskussion um eine Reform, dürfe es nicht nur um einen schöneren Namen gehen. Dem "Bürgergeld" müsse eine grundlegende Reform zugrunde liegen.

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